Einführung
Darstellung der Geburt Jesu auf einem Einband des 16. Jahrhunderts
Buchbestände vergangener Jahrhunderte sind wichtige und geschätzte Quellen der historischen und kunsthistorischen Forschung, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Text- oder Bildinhalte, sondern auch bzgl. ihrer äußerlichen Überlieferung, ihrer Herkunft, Geschichte und Entstehungsepochen. Mit Hilfe der Einbandinformationen lassen sich Datierungen, mögliche regionale Einordnungen oder Vorbesitzer ermitteln. Diese buchgeschichtlichen Aspekte können auch in der Handschriftenkunde von herausragender Bedeutung sein.
Einige namhafte Bibliotheken, nicht nur in Deutschland, sind im Besitz vielfältiger Sammlungen von Einbänden oder Durchreibungen, die regional, zeitlich oder an bestimmten Provenienzen ausgerichtet sind. Dennoch verbergen sich in nicht wenigen Bibliotheken noch völlig unerschlossene zeitgenössische oder später entstandene Einbände, die wichtige Anhaltspunkte für einen Gesamtüberblick liefern können. Die Erkenntnisse der Einbandkunde bieten Wissenschaftlern verschiedener Fachdisziplinen ergänzende Informationen und werden so zum Ausgangspunkt neuer Forschungsansätze. Deren Ergebnisse sind wiederum Grundlage für ergänzendes und für die Einordnung der Einbände notwendiges Wissen, sie ermöglichen neue und weiterführende Aussagen. Beispiele für diese gegenseitige Bereicherung sind z. B. Historiker, die Archivmaterial zur Entwicklung des Buchbindergewerbes und der Handwerkszünfte auswerten oder Buchbinder und Restauratoren, die alte Einbandtechniken erkennen und für ihre tägliche Arbeit einsetzen. Im Zentrum überwiegend kunsthistorischer Betrachtungen stehen die Motive. Aussagen zu Stechern, Stempelschneidern oder Klausurenmachern tangieren vor allem die Handwerks- und Sozialgeschichte.
Gegenstand
Grundlage und Ausgangspunkt für die Einbandforschung bilden
- Historisch bedeutsame Einbände
- Künstlerisch wertvolle Einbände
- Moderne Handeinbände
- Gebrauchseinbände (z.B. Bibliothekseinbände)
- Industriell hergestellte Verlagseinbände
- Interimseinbände
- Mittels Remboîtage entstandene Bände
- Buntpapiere
- Buchumschläge, Schuber
- Entwicklung der Einbandtechnik, verschiedene Buchfertigungsverfahren
- Leben und Schaffen von Einbandkünstlern, -gestaltern und Einbandforschern
- Zeitgenössische Buchbinderwerkzeuge
Ziele
Die Einbandforschung leistet einen Beitrag zur Buch- und Kulturgeschichte. Ihr Bestreben ist die
- Einordnung von Einbänden (stilistisch, zeitlich, regional, technisch) und Werkstätten
- Rekonstruktion von Sammlungen und Sammlungszusammenhängen
- Rückschlüsse auf die Wirkungsgeschichte eines Buches
- Kunstgeschichtliche Einordnung (z.B. bei mittelalterlichen Prachteinbänden, Verlagseinbänden, modernen künstlerischen Handeinbänden)
- Entwicklung fachlicher Vokabularien
- Verbreitung normativer Einbandinformationen zu Werkstätten und Werkzeugen (früher: Repertorien; heute: Einbanddatenbank)
- Dokumentation der historischen und technischen Entwicklung der Einbandherstellung
- Beitrag zur Handschriften- und Druckgeschichte durch aufgefundene Einbandmakulatur
- Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte durch Informationen zum Buchbinderhandwerk (z.B. aufgrund handschriftlicher Namensangaben oder Auflistung der Bindekosten)
- Identifikation von Fälschungen
Einbandforschung zum Anhören: Im Rahmen unserer Podcast-Reihe Stimmen der Bibliothek erklärt Klaus Thomas Jacob, Einbandforscher und Referent an der Staatsbibliothek zu Berlin, im Gespräch mit Zora Steiner, womit sich die Einbandforschung beschäftigt, von wem sie betrieben wird und wie die Staatsbibliothek Einbandforschende unterstützt.
Weiterlesen und -schauen
Mazal, Otto: Zur Geschichte und Methodik der Einbandkunde
In: Mazal, Otto: Einbandkunde. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden 1997, ISBN 3-88226-888-3. S. 344-359
Schunke, Ilse: Einführung in die Einbandbestimmung. Dresden: VEB Verl. der Kunst, 1977. StabiKat
Einbanddatenbank: Durchreibungs-Sammlungen
Rara-Lesesaal / Einbandsammlungen und Tafelwerke
Vollendete Einbandkunst: Rundumansicht eines prachtvollen Renaissance-Einbandes des Buchbinders Jakob Krause für das Kreutter Buch des Pedanius Dioscorides, erschienen in Franckfurt am Mayn 1546. Die Zimelie trägt die Signatur Ebd 96. | Fotos: C. Seifert SBB-PK
Die Anfänge
Die Einbandforschung (Einbandkunde) ist ein verhältnismäßig junges Feld der Buchwissenschaft. Ausgehend von speziellen vornehmlich persönlich geleiteten Interessen bibliophiler Sammler und an Einbänden interessierter Antiquare bildete sich die Einbandkunde im auslaufenden 19. Jahrhundert. Mit Beginn des 20. Jahrhundert entwickelte sie sich vor allem durch den Aufbau prototypischer öffentlicher und privater Sammlungen. Besonders durch das wissenschaftliche Engagement und vielseitige Interesse von Bibliothekaren entfaltete sich die Einbandkunde als eine gesamtheitliche wissenschaftliche Disziplin, die sich sowohl mit Themen der Einbandkunst als auch mit Fragen zu technischen Verfahren beschäftigt. Bis in die 30er Jahre entstanden Einband-Sammlungen; es wurden Ausstellungen kuratiert und Tafelwerke mit Abbildungen zusammengestellt sowie erste Darstellungen zur Geschichte des Bucheinbandes (wie die Habilitationsschrift von Richard Steche) veröffentlicht. Zunächst interessierten sich die damaligen Einbandforscher vordergründig für die Gestaltung der Buchdeckel. Sie sichteten neben regionalen Sammlungen auch Bestände auf ausgedehnten Bibliotheksreisen, fertigten Durchreibungen und Einbandbeschreibungen an und veröffentlichten schließlich wichtige Kompendien und Repertorien. Eine im Jahr 1926 durchgeführte Umfrage unter deutschen und österreichischen Bibliotheken im Zusammenhang mit Ideen zu einer geplanten einheitlichen Bucheinbandkatalogisierung betraf u.a. die Frage nach vorhandenen Einbandbeschreibungen und -Sammlungen, worauf aus 90 Einrichtungen positive Antworten eingingen [Hofmann in ZfBB 44 (1927)]. Folgende Namen sind untrennbar mit dieser initialen Phase in Deutschland und Österreich verbunden:
Friedrich Adolf Ebert (Dresden), Paul Schwenke (Berlin), Theodor Gottlieb (Wien), Hans Loubier (Berlin), Adolph Schmidt (Darmstadt), Max Joseph Husung (Berlin), Konrad Haebler (Berlin u. Dresden), Johannes Hofmann (Leipzig), Anna Marie Floerke (Rostock), Ernst Kyriss (Stuttgart), Ilse Schunke (Dresden u. Berlin), Ferdinand Geldner (München).
Neben Initiativen in Wien, Dresden, Darmstadt und Leipzig wurden in Berlin an der Preußischen Staatsbibliothek erste maßgebliche Impulse gesetzt.
Eine Seite des Repertoriums von Haebler mit Anmerkungen, Korrekturen und Ergänzungen des Einbandforschers Konrad von Rabenau.
Methoden und Aufgaben
- Analyse von Schmuckformen, Motiven, Stil und Komposition der Verzierungen
- Analyse von Einbandtechniken und Einbandelementen (Rücken, Deckel, Schnitt, Kapital, Bindung, Schließen und Beschläge, Bänder …) sowie Materialien
- Auswertung von Makulatur und Fragmenten
- Vergleich von Einbänden mit anderen Originalen sowie Hilfsmaterialien (analoge Tafelbände und Abbildungswerke, Auktions- und Antiquariatskataloge, Sammlungskataloge, Durchreibungen, Scans, Streiflichtaufnahmen, digitale Ausstellungen und Datenbanken, etc.)
- Zuweisung zu Buchbinderwerkstätten (bei unsignierten Einbänden der These folgend: Zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten waren andere Stile, verschiedene Formen von Schmuckelementen in Gebrauch – der Vorrat verwendeter Werkzeuge ist charakteristisch für eine Werkstatt)
- Etablieren von verbesserten und zeitgemäßen Visualisierungsverfahren
- Sammeln, Ergänzen und Erschließen von neuem Studien- und Vergleichsmaterial
- Publikation einbandkundlicher Fachliteratur (u.a. in der Zeitschrift Einband-Forschung, die vom AEB herausgegeben wird) und Öffentlichkeitsarbeit
Herausforderungen
Das von den Einbandforschern erarbeitete Quellenmaterial wächst ständig. Die Veröffentlichung und Zusammenschau dieser Materialien bildet die Basis weiterer Forschung. Historische Einzelleistungen von Einbandforschern und Zuschreibungen von Werkzeugen in Repertorien können im Zeitalter von Digitalisierung und vernetzter Wissensorganisation umfassend zusammengeführt, korrigiert und aktualisiert werden. In der Nutzung von entwickelten innovativen Techniken bei der Analyse und dem Vergleich von Einbanddetails sowie der Visualisierung entstehender Erkenntnisse liegt ein Potenzial der Einbandforschung im 21. Jahrhundert.
Sichtbar gewordene Einbandkunst: Bildoptimierte Beispiele für teilweise Jahrzehnte alte Durchreibungen von Bucheinbänden des 15. und 16. Jahrhunderts, die im Rahmen eines Projektes für die Einbanddatenbank digitalisiert wurden.